Szene 01
Onkel Shabo Shabo floh mit seiner Frau und ihrem neugeborenen Sohn Petros – kaum einen Monat alt – aus seinem Dorf Hah in der Türkei nach Qamischli, nachdem er die Schrecken der Sayfo-Massaker überlebt hatte. Dort arbeitete er mit all seiner Kraft, auf Baustellen, in Erntefeldern und in Obstgärten, entschlossen, aus der Asche des Verlustes ein neues Leben zu schaffen.
Zwei Jahre später wurde eine Tochter geboren. Er nannte sie Maryam, zum Gedenken an seine verstorbene Mutter.
Die Jahre vergingen. Shabo und seine Frau bekamen Zwillinge, doch das Unglück schlug erneut zu – beide Kinder starben am selben Tag nach einer missglückten Kaiserschnittoperation, die von der Kirche bezahlt worden war. Es war eine Wunde, die niemals heilte, doch sie verstärkte nur seinen Entschluss, Petros und Maryam mit standhafter Liebe großzuziehen und ihnen die bestmögliche Bildung zu ermöglichen.
Petros wurde ein Künstler und schloss als Lehrer für Bildende Kunst ab, während Maryam Grundschullehrerin in Qamischli wurde. Sie heiratete einen Kollegen, doch Petros blieb unverheiratet und wiederholte oft mit leiser Überzeugung: „Mein Vater ist wichtiger als die Ehe – wichtiger als alles andere auf dieser Welt.“
Zwei Jahre nach Maryams Heirat starb ihre Mutter. Bald darauf wurde Shabo schwer krank – Leberzirrhose und ein vergrößertes Nierenleiden. Petros übernahm ohne Zögern die volle Pflege seines Vaters mit unerschütterlicher Geduld.
Eines Nachmittags brachte Maryam einen Arzt in das bescheidene Zimmer, wo ihr Vater auf einer einfachen Matratze am Boden lag. Der Arzt untersuchte ihn, studierte die Testergebnisse und sprach schließlich mit gedämpfter, trauriger Stimme:
— „Sein Zustand ist sehr kritisch… er könnte jeden Moment sterben.“
Maryam wandte sich ab, ihre Tränen fielen still am Fenster. Als der Arzt gehen wollte, rief eine schwache, gebrochene Stimme:
— „Maryam…“
Sie eilte zu ihm.
— „Ja, Papa… was ist?“
Mit mühsamem Atem flüsterte er:
— „Ruf deinen Bruder Petros… sag ihm, er soll schnell kommen.“
Ihr Sohn rannte sofort, um seinen Onkel aus der Schule zu holen. Kurz darauf trat Petros ein, sein Gesicht blass vor Sorge. Er kniete sich neben das Bett.
— „Ja, Papa… was ist los?“
Shabo hob eine zitternde Hand und bedeutete allen zu gehen. Dann mit Anstrengung:
— „Maryam bleibt…“
Die Geschwister warfen sich einen verwirrten Blick zu, bevor die anderen hinausgingen und die Tür schlossen. Petros beugte sich vor, seine Stimme gespannt vor Angst:
— „Sag es mir, Papa… was ist?“
Jedes Wort schien Shabo aus der Brust gerissen:
— „Hör gut zu… unter der Matratze liegt eine kleine Tasche. Ich habe sie dort versteckt, als du noch ein Kind warst. Darin findest du ein Holzkreuz mit deinem Namen und einen Brief auf Syrisch. Vater Barsoum aus Hah gab es mir. Er sagte, es sei wichtig… also habe ich es für dich aufbewahrt.“
Sein Blick ruhte schwer auf Maryam, voller Trauer und stummem Verständnis. Ihre Lippen bebten; sie flüsterte leise:
— „Papa… bitte, sag das nicht…“
Shabo schloss die Augen für einen Moment, öffnete sie dann wieder mit einem Ausdruck endgültiger Entschlossenheit.
— „Vergib mir, Maryam… aber es muss gesagt werden.“
Er wandte sich wieder Petros zu, seine Stimme gebrochen:
— „Vergib mir, mein Sohn… die Wahrheit, die mein Herz jahrelang verbrannt hat… Maryam kennt sie gut. Wir haben sie dir verschwiegen, aus Angst, was sie mit dir machen würde. Aber… ein Engel ist mir drei Nächte in Folge erschienen und befahl mir: ‚Sag Petros die Wahrheit.‘“
Petros zitterte, seine Stimme brach:
— „Welche Wahrheit, Papa?“
Shabos Atem stockte. Zwei heiße Tränen rannen über seine Wangen, während er die Worte herauspresste:
— „Die Wahrheit, mein Sohn… ich bin nicht dein leiblicher Vater.“
Die Worte fielen wie Donner. Petros fühlte sich in einen bodenlosen Abgrund stürzen. Er wandte sich entsetzt Maryam zu, doch sie hielt den Kopf gesenkt, unfähig, seinen Blick zu erwidern. Stille Tränen zeichneten ihre Wangen, bestätigend, was sie schon lange wusste.
Plötzlich krampfte Shabos Körper. Seine Augen richteten sich zur Decke, als ob sie etwas Unsichtbares erblickten. Sein Körper zitterte noch einmal, dann wurde er still. Mit einem letzten Atemzug schloss er die Augen… und gab seine Seele auf.